Auf die Publikation »Tausend Zeilen Lüge« − verfasst von Juan Moreno, der im vergangenen Jahr die Fälschungen des Ex-Spiegelreporters Claas Relotius aufgedeckte − , wurden wir erstmals am 19.09.2019 bei Markus Lanz aufmerksam. Und spätestens, nachdem wir auf der Frankfurter Buchmesse 2019 am Messestand der Spiegel-Gruppe den Meinungsaustausch zwischen Juan Moreno und Spiegel-Chefredakteur Clemens Höges live verfolgen konnten, war unser Wunsch, ›den‹ Enthüllungsthriller des Jahres zeitnah zu lesen und zu rezensieren endgültig geweckt.
»Jaegers Grenze« oder der tiefe Fall Relotius
Der freie Journalist Juan Moreno berichtet in seinem spannend geschriebenen Bestseller detailliert darüber, wie er − quasi im Alleingang teils gegen erheblichen Widerstand seiner damaligen Vorgesetzten beim ›Spiegel‹ − anlässlich eines gemeinsamen Projekts mit Relotius (Jaegers Grenze) einen der größten Skandale in der jüngsten Geschichte des deutschen Journalismus aufdeckte.
Erst, als die von Juan Moreno unter großem Aufwand mühsam zusammengetragene Beweislast immer erdrückender wurde und das Lügengebilde wie eine Blase zu platzen drohte, traten die Verantwortlichen endlich die Flucht nach vorn an, machten den mehr als peinlichen hauseigenen »Betrugsfall Relotius« am 19.12.2018 öffentlich und schockten ihre Leser in der Ausgabe 52/2018 mit weiteren Details des journalistischen Albtraums.
Hinterher ist man immer schlauer
An diese alte relativierende Weisheit klammert sich auch der ›Spiegel‹, − der zumindest bis zu diesem Skandal den ersten Platz in der Reihe der deutschen Qualitätsmedien innehatte und den Ruf genoss, in puncto Wahrheitsgehalt stets verlässlich sauber doppelt & dreifach gründlich zur Sache zu gehen − und verkündete im Abschlussbericht per 24.05.2019 sowohl reumütig als auch selbstbewusst:
Die gute Nachricht: „Es wurden keine Hinweise darauf gefunden, dass jemand im Haus von den Fälschungen wusste, sie deckte oder gar an ihnen beteiligt war.”
Die schlechte Nachricht: „Wir haben uns von Relotius einwickeln lassen und in einem Ausmaß Fehler gemacht, das gemessen an den Maßstäben dieses Hauses unwürdig ist. Und: Wir sind, als erste Zweifel aufkamen, viel zu langsam in die Gänge gekommen und haben Relotius‘ immer neuen Lügen zu lange geglaubt. In seiner Verdichtung zeichnet der Bericht da ein verheerendes Bild.”
Kein Hauch von Zweifel bis 2017
Es heißt, dass bereits in 2017 erste Ungereimtheiten in Zusammenhang mit der hochdekorierten Edelfeder Relotius zu Tage getreten sein sollen. „Der Spiegel hätte Relotius wohl schon 2017 stoppen können”, heißt es in einem interessanten Artikel bei ZEIT-online. In der Tat: Auch wenn man sich als Laie − sowie ungeachtet des Wissens von heute − einige der im Spiegelarchiv hinterlegten romanreifen Reportagen des ehemaligen Spiegelmitarbeiters Claas Relotius antut, kann man sich im Nachhinein nur darüber wundern, dass ›explizit beim Spiegel‹ nicht schon viel früher verdächtigen hausinternen Hinweisen nachgegangen wurde, ob es sich − mal mehr und mal weniger − um manipulierte Storys samt frei erfundenen Charakteren und Interviewpartnern hätte handeln können.
Was man für wahr haben möchte, hält man auch gern für wahr
Nicht nur, dass sich der produktive rasende Reporter Relotius mit Vorliebe ganz besonders herzergreifender gesellschaftspolitisch brisanter Themen annahm, — nein, er ›erschuf‹ darüber hinaus wie jeder gute Romanautor auch gleich passend dazu die großen und kleinen Helden und Heldinnen, an deren hochdramatischem Schicksal er in seinen Geschichten exklusiv teilhaben durfte. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass nicht nur der »Spiegel«, sondern auch andere namhafte Medien, wie a. a. der »Cicero«, die »taz«, die »Welt«, das »SZ-Magazin«, die »Weltwoche«, »ZEIT online« und »ZEIT Wissen« sowie die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«, von Claas Relotius erfundene, bzw. teilweise manipulierte Texte publiziert haben.
Gibt es ein System Reloius?
Jeder Leser, der sich den Spiegel-Bestseller »Tausend Zeilen Lüge« von Juan Moreno aufmerksam zu Gemüte führt, kann sich seinen eigenen Reim darauf machen, warum es beim ›Spiegel‹ − angefangen von den ersten bis hin zu Morenos mehr als eindeutigen Hinweisen und Forderungen nach Mitwirkung bei der Aufklärung der mehr als offensichtlichen Widersprüchlichkeiten − so extrem lange dauerte, bis sich die seinerzeit Verantwortlichen endlich die Mühe machten, höchstpersönlich einen echten ›Faktencheck‹ in Angriff zu nehmen. Eben dieses sture Ignorieren von Informationen und beweisenden Dokumenten, das gänzlich unkritische Festhalten an einem zweifelhaften Helden, das vorgetäuschte Desinteresse an der Wahrheitsfindung aus mutmaßlich eigennützigen Motiven − kurz um − , der gesamte unrühmliche Umgang des renommierten Spiegel-Nachrichtenmagazins mit diesem Fall von Hochstaplerei in den eigenen Reihen, ist unseres Erachtens nach der eigentliche Skandal.
Der Fall Relotius geht in die nächste Runde
Juan Moreno versucht in seinem Buch nachdrücklich, sowohl die Hintergründe für die Verzögerung bei der Wahrheitsfindung, als auch den Menschen Claas Relotius und seine Motive zu durchleuchten. Im Gegensatz zu den mittlerweile nicht mehr in ihren Positionen tätigen damaligen Verantwortlichen, fühlt sich der gefallene Titelheld jedoch durch Morenos nachvollziehbare Analysen zu einer Reaktion herausgefordert und beauftragte wegen einiger im Buch aufgestellten angeblichen Falschbehauptungen einen Medienanwalt, um gegen Autor und Verleger vorzugehen.
„Es ist durchaus nicht dasselbe, die Wahrheit über sich zu wissen oder sie von anderen hören zu müssen.” (Aldous Huxley)
Juan Moreno bleibt es somit nicht erspart − wie zuletzt bei den Medientagen in München vom 23. bis 25.10.2019 − zu den von der Gegenseite gegen ihn erhobenen Vorwürfe Stellung zu beziehen.
Unser Fazit
Der Titel »Tausend Zeilen Lüge« ist für jeden Leser, der sich für den Fall, bzw. das System Relotius und den brisanten Skandal rund um den deutschen Journalismus interessiert, eine echte Pflichtlektüre. Frei nach dem Highlander-Prizip »Es kann nur einen geben«, blieb dem freien Journalisten und 4-fachen Familienvater Juan Moreno in der damaligen Situation allerdings gar nichts anderes übrig, als den routinierten Hochstapler Relotius auf eigene Faust der Lüge zu überführen. Packend mitzuerleben, wie der Autor dem smarten, nach Außen hin stets betont zurückhaltend und bescheiden auftretendem Baron Münchhausen der Medienbranche Schritt für Schritt immer mehr auf die Schliche kam und nicht eher aufgab, bis auch dem ›Spiegel‹ nichts anderes übrig blieb, als in Anbetracht der gnadenlosen Fakten die blamable Skandalgeschichte öffentlich einzugestehen.
Wir zwei von lesemehrwert.de sind fest davon überzeugt, dass die Wahrheit die Oberhand behält und wünschen in diesem Sinne dem Autor und dem rowohlt Verlag für den leidlichen, aber offenbar unvermeidlichen Rechtsstreit viel Erfolg.
Der 287 Seiten starke brisante Spiegel-Bestseller (ISBN 978-3-7371-0086-1)
Tausend Zeilen Lüge
Das System Relotius und der deutsche Journalismus
der demnächst auch verfilmt werden soll, ist als Taschenbuchausgabe zum Preis von € 18,00 im rowohlt Verlag erschienen.
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