Für Sie gelesen: »Kindeswohl – Ein Roman von Ian McEwan«
Kaum ein anderes Zitat, als nachfolgendes
»Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut,
sondern manchmal viel mehr für das, was man nicht tut.«
(von Laotse, Lao Tse)
passt besser zu dem bewegenden Roman − rund um religiösen Fanatismus, die Liebe zum Leben, Scham, Verantwortung, Schuld und Sühne und den Tod −
Kindeswohl – Ein Roman von Ian McEwan
Die ehrenwerte Fiona Maye (mit 59 in den frühen Kinderjahren des Alters), lebt puritanisch und aufopferungsvoll für ihre Karriere als Familienrichterin am Londoner High Court. Mit ihrer kinderlos gebliebenen langjährigen bis dato glücklichen Ehe hat sie sich arrangiert. Als etablierte und ehrgeizige Fachgröße lebt sie mittlerweile jedoch privat ‒ wenn auch von der sicheren Warte ihres Richterstuhls und Schreibtisches aus ‒ immer mehr in der Welt ihrer vielschichtigen Aktenfälle das Leben der anderen. In der Welt der vielen getrennt und in Scheidung lebenden, meist hasserfüllt und erbarmungslos um Hab und Gut ‒ vor allem aber um den gemeinsamen Nachwuchs ‒ sich streitenden (Ex)Eheleute.
Ganz nüchterne Juristin und Richterin bis in die Fingerspitzen hinein, handelt Fiona stets gewissenhaft nach dem Prinzip Kindeswohl, d. h. getreu den gesetzlichen Vorgaben: „In jeder Frage der Sorge für die Person eines Kindes hat das Wohl des Kindes dem Gericht als oberste Richtschnur zu dienen“. Immer im Übereinklang alter philosophischer Leitlinien mit den Moralvorstellungen einer aufgeklärten, zivilisierten und modernen Wertegemeinschaft, wonach kindliches Wohlbefinden (das s. g. genannte »Kindeswohl«) als etwas grundsätzlich Soziales gilt und das komplizierte Gewebe der Beziehungen eines Kindes zu Familie und Freunden als »das« Entscheidende zu betrachten ist. Kein Kind ist eine Insel. Der Mensch ist ein soziales Lebewesen.
Schon von der ersten Seite an reißt Ian McEwan (Jahrgang 1948) − einer der populärsten und besten britischen Gegenwartsschriftsteller − in seinem Roman »Kindeswohl« den Leser in seinen Bann. Man kommt sich bei der Schilderung des erbitterten Ehestreits zwischen Fiona und ihrem Mann Jack fast wie ein Voyeur vor, der heimlich an der Wand intime Peinlichkeiten belauscht. Überhaupt gelingt dem Autor der fortlaufende Szenenwechsel ‒ erzählt aus Sicht der Zentralfigur Fiona ‒ zwischen dem Verlauf ihrer Ehekrise, ihrem anstrengenden Berufsalltag im Gerichtssaal, den aufschlussreichen Rückblenden in frühere Zeiten, sowie der Abfolge des sich langsam immer klarer durch das Buch schlängelnden Verhängnisses, scheinbar mühelos. Durch seine formvollendeten, einleitenden und veranschaulichenden Beschreibungen von Orten des Geschehens, sowie der jeweils in der Luft liegenden Witterung und Atmosphäre, hört man förmlich aus den Seiten des Buches heraus die Spannungen zwischen Fiona und den die Geschichte tragenden Handlungspersonen knistern.
Kindeswohl – Ein Roman von Ian McEwan
Immer liegt der Richterin das Kindeswohl am Herzen. Egal, ob es in einem Sorgerechtfall um die Entscheidung geht, zwei Mädchen um einer aussichtsreicheren Zukunft willen dem Einfluss ihres ultraorthodoxen Vaters zu entziehen, oder ob es rational abzuwägen gilt das Leben eines siamesischen Zwillings zu opfern, um das des anderen zu retten: Akribisch, gewissenhaft und besonnen analysiert die Richterin Vorgang für Vorgang, legt äußersten Wert auf sorgfältig erarbeitete, schlüssig argumentierte, nachvollziehbare und rechtlich haltbare Urteile und wächst mit jedem neuen schwierigen Fall über sich hinaus. Die innerliche Kraft für ihr schweres Amt schöpft sie aus ihrer privaten Harmonie. Ihr Hang zu Perfektion zeigt sich auch in ihrer Liebe zur perfekten Darbietung anspruchsvoller Musikstücke, die sie alljährlich (zusammen mit einem Freund und Anwalt) als eingespieltes Team einem ausgewählten Insider-Publikum präsentiert.
Kindeswohl – Ein Roman von Ian McEwan
Selbst als ihr sich vernachlässigt fühlender Mann sie damit konfrontiert, sich in eine Affäre mit einer jüngeren Frau stürzen zu wollen, korrigiert sie selbstbeherrscht nebenher ein terminiertes, wichtiges Urteil und weißt ihm − zu müde und lustlos zum zeitraubenden Streiten − die Tür. Nichtsdestotrotz empfindet sie ‒ nicht zuletzt auch um ihrer gesellschaftlichen Stellung willen ‒ das Verhalten ihres Gatten als ungebührlich, ungerecht und Verrat an ihrer langjährigen Gemeinschaft. Verletzt und verärgert reagiert sie dann aber für ihre Verhältnisse äußerst emotional: Denn obgleich sie als Richterin normaler Weise in einem analogen Fall eine Maßnahme, ‒ wie das Aussperren eines Ehepartners aus der gemeinsamen Wohnung ‒ als überzogen und unangemessen beurteilt hätte, gibt sie sofort am nächsten Tag das Austauschen des Wohnungstürschlosses in Auftrag.
Kindeswohl – Ein Roman von Ian McEwan
Just in dieser schwierigen persönlichen Phase des Sitzengelassen- und Verlassenseins wird sie mit einem neuen ethnischen Dringlichkeitsfall betraut: Ein 17-jähriger, an akuter Leukämie lebensbedrohlich erkrankter junger Mann soll gegen seinen, sowie den Willen seiner Eltern, in einer Londoner Klinik mit Fremdblut zwangstherapiert werden. Zwangsweise deshalb, weil der streng in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas verankerten Familie die Annahme lebensrettender Bluttransfusionen strikt untersagt ist. Entgegen ihren Gepflogenheiten sucht Richterin Fiona den ihr als geistig frühreif, hochintelligent und hochbegabt beschriebenen Todeskandidaten im Krankenhaus auf, um sich selbst davon zu überzeugen, dass die Inkaufnahme des sichereren Todes auf seiner eigener Entscheidung, oder der destruktiven Beeinflussung der Eltern und anderer Sektenmitglieder beruht.
Kindeswohl – Ein Roman von Ian McEwan
Im Nachhinein klingen die anfänglichen Worte des zur Sache befragten Jungen: „Ich würde denken, dass Mylady sich in Dinge einmischt, die sie nichts angehen“, fast wie eine apokalyptische Warnung. Die kluge Fiona findet jedoch im weiteren Verlauf des Gesprächs ‒ auf Basis von Gemeinsamkeiten wie Lyrik und Musik ‒ Zugang zu dem sensiblen und poetisch veranlagten Adam ….. und pflanzt in ihm das zarte Pflänzchen des Wunsches nach der Leichtigkeit des Seins. Da dieser zwar weltfremd erzogene, jedoch hoffnungsvolle, außergewöhnlich empfindsame, aber gänzlich lebensunerfahrene und im Grunde seines Herzens völlig unbedarfte blutjunge Mensch auf keinen Fall frühzeitig für die obskuren Wertvorstellungen einer fundamentalistischen Erlösersekte sterben darf, fällt die äußerst beeindruckte Richterin selbstredend ein Urteil zu Gunsten der Therapie, ‒ die dann erfolgreich in die Tat umgesetzt wird. Durch ihre beherzte Entscheidung entbindet sie Eltern und Sohn vom Vorwurf des Verrats ihres Glaubens, weckt aber gleichzeitig auch durch ihr persönliches Engagement, ihre lebensbejahenden Worte ‒ und vor allem ihr formvollendetes, detailliert begründetes Urteil ‒ bei dem jungen Mann einen so nachhaltigen Eindruck, dass er unmittelbar nach seiner Genesung mit der Religion des Wachturms bricht.
Kindeswohl – Ein Roman von Ian McEwan
Mehrfach sucht der auf dem Weg der Selbstfindung begriffene Adam schriftlich Kontakt zu ihr. Die Richterin jedoch, die den Fall längst abgehakt hat und sich ‒ auch nach der reumütigen Rückkehr ihres Gatten ‒ immer noch in einer langatmigen, lähmenden Ehekrise befindet, fühlt sich durch den Ratsuchenden überfordert. Da der Junge darüber hinaus offenkundig auch noch romantische Gefühle für sie entwickelt hat, kann sie sich nicht zu einer Beantwortung seiner Briefe aufraffen. Als sie Monate später zu einer juristischen Tagung in einem entlegenen altenglischen Herrenhaus reist, steht plötzlich ‒ genauso unerwartet wie das am Abend einsetzende schwere Unwetter ‒ triefnass vom Regen und erschöpft von der langen Wanderung, der junge Mann vor der Tür. Panisch vor Angst, dass man die Situation in irgendeiner Form missdeuten könnte, kreisen ihre einzigen Gedanken nur darum, ihn schnellstmöglich ohne Aufsehen loszuwerden. Bevor sie ihrem Sekretär die nötigen Anweisungen gibt, lässt sie sich jedoch dazu hinreißen, den jungen Mann zu küssen.
Kindeswohl – Ein Roman von Ian McEwan
Im Herbst des Jahres erhält sie noch einmal Post in Form einer ihr gewidmeten Ballade. Der hochsensible Adam gibt ihr auf poetische Weise unmissverständlich zu verstehen, dass er von ihr grenzenlos enttäuscht ist. Von ihr, seiner heißverehrten Mylady, die in ihm erste Zweifel an seinem Glauben säte, erstmals den Wunsch nach dem wirklichen Sinn des Daseins weckte, mit klugen Worten von seiner falschen Überzeugung und Todessehnsucht befreite und somit letztendlich zur Abkehr von seiner Religion, seinen Eltern und der Gemeinschaft verführte. Der ehrenwerten Mylady, die ihn wie Judas küsste und dann einfach fortschickte. Die ohne ein Wort alles im Keim erstickte und ihm achtlos vor die Füße warf: All seine erwachten Gefühle, Wünsche und Hoffnungen. Ansprüche, welche die Richterin zu keinem Zeitpunkt weder erfüllen wollte, noch konnte. Aber auch dieser verstörende Hilferuf wird von Fiona, ‒ die insgeheim längst ahnt, dass sie wenn auch wider Willen schon viel zu tief in das Schicksal eines psychisch angeschlagenen jungen Menschen verstrickt ist ‒ , erfolgreich verdrängt und abgetan. Die letzten kryptischen Worte der Ballade scheinen ihr nicht eindeutig entzifferbar und schlüssig. Aus Selbstschutz unterlässt sie es jedoch näher nachzuforschen und zieht es vor sich einzureden, dass der intelligente Junge seine Zukunft zweifellos auch ohne Beistand und Hilfe meistern würde.
Kindeswohl – Ein Roman von Ian McEwan
Gnadenlos und unerbittlich folgt jetzt das Finale: Durch einen Zufall erfährt die Richterin − allerdings erst Wochen später anlässlich der jährlichen Orchesterveranstaltung ‒ von der sich seit langem abzeichnenden Tragödie um ihren einstigen Schützling. Dennoch spielt sie ‒ selbstbeherrscht wie immer und so hingebungsvoll wie nie zuvor ‒ ihr musikalisches Repertoire zu Ende und verlässt dann fluchtartig die Bühne. Plötzlich ergeben die letzten Worte der Ballade von Adam Henry einen Sinn…. Später, während der unausweichlichen Unterredung zu Hause mit ihrem Mann, erleidet sie einen Weinkrampf und kommt nicht umhin, die sie mehr und mehr erdrückenden Schuldgefühle länger vor sich selbst zu rechtfertigen. Warum war gerade eine erfahrene und kompetente Frau wie sie nicht in der Lage, die Zeichen und Hilferufe zu deuten? Warum war sie stattdessen ‒ nur um ihren guten Ruf bedacht ‒ unfähig, dem aus der Bahn geworfenen jungen Mann geeignete Hilfe zuteil werden zulassen? Adam hatte sich an sie gewandt, und sie hatte ihm nichts geboten, keinen Ersatz für seine Religion, keinen Schutz, einfach nichts. Wie viele Seiten wie vieler Urteile hatte sie dem Kindeswohl gewidmet! Sie hatte geglaubt, ihre Verantwortung ende an der Tür des Gerichtssaals. Aber wie sollte das gehen? Er war zu ihr gekommen, er wollte von ihr, was jeder will und was nur aufgeklärte Menschen ‒ nicht das Übernatürliche ‒ geben können: Sinn!
Kindeswohl – Ein Roman von Ian McEwan
Um nicht an ihren Selbstvorwürfen zu zerbrechen, entschließt sie sich − insgeheim auf Trost und Absolution hoffend ‒, ihrem Mann, als stellvertretende Instanz der Beurteilung ihrer jenseits der Reichweite jedes Disziplinarverfahrens liegenden Verfehlung, die ganze Geschichte zu erzählen, die Geschichte von ihrer Scham, von der Liebe dieses wunderbaren Jungen zum Leben und von ihrem Anteil an seinem Tod.
Kindeswohl
ist das erste Buch ‒ aber auf keinen Fall das letzte ‒ , das wir von Ian McEwan gelesen haben. Und obwohl wir die Handlung seines Weltbestsellers »Abbitte« aus der erfolgreichen Verfilmung mit Keira Knightley und James McAvoy bereits kennen, möchten wir unbedingt demnächst auch diesen älteren Roman des Autors lesen, da uns sowohl seine anspruchsvolle Themenwahl, als auch sein fließender, bild- und klangvoller Schreibstil, sowie seine exzellente Ausdrucksweise faszinieren.
Die 223 Seiten starke Lektüre von Ian McEwan
Kindeswohl – Ein Roman von Ian McEwan
von Ian McEwan (ISBN 978-3-257-06916-7) − ein beeindruckendes, bewegendes literarisches Dokument einer zwischenmenschlichen Tragödie − ist als gebundene Ausgabe beim Diogenes Verlag zum Preis von € 21,90 erschienen.